C02 |
Erzählungen von Geschriebenem als Grundlage einer ‚Text-Anthropologie‘ des Alten Testaments |
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UP2
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Zwischen Literatur und Liturgie – Pragmatik und Rezeptionspraxis poetischer/liturgischer Schriften der judäischen Wüste |
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der 1. & 2. Förderperiode
Teilprojektleiterin | Dr. Friederike Schücking-Jungblut |
akademische Mitarbeiterin | Anna Krauß |
Projektbeschreibung
Anhand der Handschriften aus der judäischen Wüste (Qumran, Naḥal Ḥever, Wadi Murabbaat) aus dem 3. Jh. v. Chr. bis zum frühen 2. Jh. n. Chr. soll das Verhältnis zwischen Mensch und Text untersucht werden, um so Schrift- und Rezeptionspraktiken in frühjüdischer Zeit rekonstruieren zu können.
Das Forschungsvorhaben konzentriert sich auf die Produktions- und Rezeptionspraxis von „biblischen“ Psalmen und vergleichbaren poetischen und liturgischen Schriften im Frühjudentum unter den Handschriften der judäischen Wüste. Keine andere Gruppe der dort aufgefundenen Schriften ist so breit bezeugt wie die der „biblischen“ Psalmen. Ein Vergleich zwischen den auf den Schriftrollen bezeugten Psalmen und denen der masoretischen Tradition weist auf die zu dieser Zeit bereits relativ stabile Textüberlieferung für die Einzelpsalmen hin. Die Psalmensammlungen hingegen zeichnen sich durch ihre Variabilität in der Zusammenstellung und formalen Gestaltung aus. Zudem umfassen sie mindestens 15 weitere Psalmen, die zum Teil aus der griechischen und der syrischen Überlieferung bekannt sind, zum Teil aber auch in den Handschriften der judäischen Wüste erstmals nachgewiesen wurden. Die Handlungen der Schriftrezeption in Form der Verknüpfung von Einzelpsalmen setzen sich in den Schriften der judäischen Wüste also über die „biblischen Psalmen“ hinaus fort. Dies gilt insbesondere für die bezeugten Schriftrollen und Fragmente, die ausschließlich „nicht-kanonische“ Psalmen bieten.
Im Wesentlichen werden die Psalmen und Psalmensammlungen der Schriften der judäischen Wüste bisher auf ihre Evidenzen für die Fixierung der Kanongestalt des biblischen Psalters hin ausgewertet. Demgegenüber hebt das Projekt den Eigenwert der schrifttragenden Artefakte und ihrer Texte hervor und will untersuchen, von wem und zu welchem Zweck solche schrifttragenden Artefakte hergestellt oder die überlieferten Texte im Medium der Schrift weitertradiert wurden und welche Kriterien und Zielsetzungen bei der Zusammenstellung von Einzeltexten zu Psalmensammlungen leitend waren. Weiterhin sollen die Schriften auf den Kontext und die Akteure der für sie intendierten Rezeptionspraktiken und an ihnen tatsächlich vollzogenen Handlungen hin befragt sowie umgekehrt die Bedeutungszuschreibung aufgrund der materialen Gestaltung der Artefakte durch die Rezipienten beleuchtet werden. Das Ergebnis dieser Untersuchung kann schließlich als Kontroll- und ggf. Korrektivinstanz für Thesen zum Umgang mit Psalmen und Psalmensammlungen in frühjüdischer Zeit insgesamt und zur Kanonisierung des „biblischen“ Psalters in seiner hebräischen und griechischen Gestalt fungieren.
Methodik und theoretischer Fokus
Die Analyse der liturgischen und poetischen Schriften der judäischen Wüste erfolgt in drei Schritten, die sowohl textorientierte als auch materiale Eigenschaften berücksichtigen und so eine möglichst umfassende Rekonstruktion der Schriftproduktion und -rezeption von Psalmen und Psalmensammlungen in hellenistischer und römischer Zeit erlauben.
1) Untersuchung der Handschriften mithilfe der praxeologisch orientierten Artefaktanalyse
Die Rekonstruktion sowohl kollektiv-routiniert vollzogener Schriftpraktiken als auch individueller Schrifthandlungen vergangener Kulturen – also die Handlungen und Praktiken an und mit schrifttragenden Artefakten durch Gruppen oder Einzelpersonen – erfolgt unter Rückgriff auf praxeologische und praxeographische Ansätze. Sie können für das Projekt fruchtbar gemacht werden, indem nach der materiellen Verankerung kollektiver Praktiken und / oder Sinnzuschreibungen sowie singulärer bzw. individueller Schrifthandlungen gefragt wird.
Daneben sollen die Psalmenhandschriften insbesondere im Blick auf ihr je spezifisches Layout hin befragt werden, um so Hinweise auf ihre intendierte Funktion zu erhalten. Gerade die Auswertung der Variabilität des Layouts steht hinsichtlich der aus ihr zu gewinnenden Rückschlüsse auf die intendierten und vollzogenen Schrifthandlungen noch aus.
2) Die historisch-kritische Exegese, erweitert um die Metatextanalyse und die literaturwissenschaftliche Frage der Pragmatik des Textes
Innerhalb der einzelnen Psalmentexte verweisen zahlreiche Details auf den liturgischen Hintergrund und / oder Gebrauch derselben. Diese Verweise können als implizite, selbstreferentielle Metatexte verstanden werden, von denen ausgehend näherungsweise auf die Bedeutungszuschreibungen und intendierten Rezeptionsvollzüge der Verfasser, Tradenten und Leser an den Text geschlossen werden kann. Da die zu untersuchenden Texte jedoch in ihrer Entstehung älter sind als die Handschriften aus der judäischen Wüste, muss bei der Auswertung der Bedeutungszuschreibungen an den Text auf diesen Bruch geachtet werden.
Methodisch erfolgt eine textorientierte Analyse, die auf der historisch-kritischen Exegese fußt und um die Metatextanalyse erweitert wird. Zudem werden die Texte auch auf ihre Pragmatik hin untersucht. Dabei muss über den jeweiligen Einzeltext hinaus die von den Handschriften bezeugte Zusammenstellung zu Sammlungen in den Blick genommen und auf die spezifische implizite oder explizite Pragmatik hin befragt werden.
3) Einbeziehung der Psalmen-Pescharim als explizite Metatexte
Bei einem Pescher handelt es sich um eine für Qumran spezifische Form der Kommentierung eines „biblischen“ Buches. Die Pescharim sind folglich explizite Metatexte, welche zudem die kommentierten Texte auf ihre je eigene Gegenwart applizieren. Die überlieferten Psalmen-Pescharim können so als Zeugnis der frühjüdischen Rezeptionspraxis von Psalmen als eine Vergleichsgröße für die an den poetischen und liturgischen Schriften selbst erhobenen Hinweise auf den Umgang mit solchen Schriften herangezogen werden, indem sie ebenfalls einer praxeologisch orientierten Artefaktanalyse und einer Metatextanalyse unterzogen werden.
Als weitere Vergleichsgröße für den Umgang mit „biblischen Psalmen“ in römischer Zeit soll abschließend auch ein Bezug zu ihrer bereits gut erforschten Rezeption in den Schriften des Neuen Testaments hergestellt werden.